6.5.13

Sensible SchülerInnen, Empfehlungen, Tests und Diagnosen - Anything seems possible, anything goes


In meiner Funktion als Therapeutin, die mit Hochsensiblen bezüglich ihrer Lernschwierigkeiten arbeitet, führe ich immer wieder Gespräche mit SchulleiterInnen, LehrerInnen und Eltern. Es geht um Schullaufbahnempfehlungen, die Frage, inwiefern SchülerInnen mit Realschulempfehlung auf dem Gymnasium erfolgreich sein können, welche Bedeutung Intelligenztests, diagnostizierte Lese-/Rechtschreib-/ und Rechenschwächen oder AD(H)S haben. Immer wieder kommen Zweifel auf, ob diese Diagnosen sinnvoll sind.

Dazu muss ich verdeutlichen, dass ich grundsätzlich keine - an Defiziten - orientierte Therapeutin bin. Meine Kolleginnen und ich verfolgen einen systemisch-lösungsorientierten Ansatz, der sich an den Zielen der KlientInnen orientiert und der Frage, wie unsere Arbeit dazu beitragen kann, um sie zu erreichen. Auch unsere Verlaufsdiagnostik richtet sich danach:

Wir erarbeiten die Ressourcen der KlientInnen, um heraus zu finden, welche Fähigkeiten sie haben und wie sie diese nutzen können, um Schwierigkeiten und Probleme zu lösen. Sie werden in diesem Kontext ermittelt, auf respektvolle Weise und bei gleichzeitiger Wertschätzung der Stärken. Wir bemühen uns, Offenheit zu bewahren, KlientInnen ganzheitlich zu betrachten und gemeinsam mit ihnen individuelle und effektive Lösungen für ihre Themen zu finden.

Unserer Erfahrung nach sind Empfehlungen, Tests und Diagnosen in einigen Fällen nutzlos, verwirrend oder sogar schädlich für die Beteiligten. Dazu möchte ich ein paar Beispiele geben.

Beispiel: Schullaufbahnempfehlungen

Viele intelligente und hochsensible SchülerInnen haben Lernschwierigkeiten, auf Grund derer sie von LehrerInnen und Eltern falsch eingeschätzt werden, was ihr Lern- und Leistungsvermögen anbelangt. Daher sind sie nicht auf dem Schulzweig, der ihren Fähigkeiten entspricht. In meinem Blog und auf meinen Internetseiten habe ich erläutert, welche Formen der Unterstützung diese SchülerInnen benötigen.

Aber auch die Diagnose 'Hochbegabung' – die oft mit Hochsensibilität einher geht - kann dazu führen, dass SchülerInnen keine Empfehlung für ein Gymnasium erhalten, weil das notwendige Lern- und Arbeitsverhalten fehlt, um auf diesem Zweig erfolgreich zu sein. Manche Eltern und SchülerInnen freuen sich (zu Recht) über diese Feststellung, 'ruhen sich dann aber (leider) darauf aus', statt konsequent - 'am Fehlenden' - z.B. Konzentration, Lerntechniken, einer vernünftigen Tagesstruktur, die Lern- und Entspannungs- zeiten beinhaltet... - zu arbeiten. Sie sind dann sehr enttäuscht, wenn ihr Kind nur eine Realschulempfehlung bekommt obwohl es eigentlich auf ein spezielles Gymnasium für Hochbegabte gehen sollte, das es nun nicht aufnimmt. Auch wir finden das schade...

Zu Schullaufbahnempfehlungen ist insgesamt zu sagen, dass sie in vielen Fällen nicht aussagekräftig sind, was auch einige SchulleiterInnen feststellen: Manche LehrerInnen an Grundschulen sprechen eine Gymnasialempfehlung relativ leicht und häufig aus - bei anderen ist es eher schwierig, sie zu erhalten. D.h. es wird an Gymnasien auch darauf geachtet, von welchem Lehrer, welcher Lehrerin und Schule die Empfehlung kommt. Je nachdem, wird ihr eine größere oder kleinere Bedeutung beigemessen und auch SchülerInnen mit Realschulempfehlung sind häufig an Gymnasien herzlich willkommen, weil ihnen mehr zugetraut wird.

Beispiel: Intelligenztests

Sensible SchülerInnen haben in Testsituationen Prüfungsängste bis hin zum Black-Out, gerade wenn Eltern und LehrerInnen ein Intelligenztest und dessen Ergebnis sehr wichtig ist. Die Folge: Diese SchülerInnen versagen.

Gerade hatte ich ein Gespräch mit einer Mutter, deren Kind bereits verschiedene dieser Tests gemacht hat. Das Spektrum der Ergebnisse reichte von 'minderbegabt' über 'mittelmäßig' bis 'hochbegabt' - abhängig von der momentanen Verfassung ihres Sohnes zum Zeitpunkt der Testung. Sie war völlig verwirrt, was denn nun zutrifft und wie sie die Ergebnisse einschätzen soll.

Beispiel: Diagnose Lese-/Rechtschreib-/ und/oder Rechenschwäche

Diese Diagnose hat - unserer Erfahrung nach - bei sensiblen SchülerInnen zwei mögliche Wirkungen: Die Einen reagieren nach dem Motto 'huch, ich bin krank', d.h. Selbstvertrauen und Motivation sinken, die Anderen empfinden sie als Entlastung: 'Naja, das ist halt so, das kann ich eben nicht ändern'. Beide Reaktionen sind nicht geeignet, Herangehensweisen zu entwickeln, um die Probleme zu lösen. Deshalb sprechen wir von 'Lese-, Rechtschreib- und Rechenschwierigkeiten'. Sie können bei manchen stärker ausgeprägt sein, bei manchen schwächer... Schwierigkeiten kann man lösen, wenn man sich bemüht, mit Schwächen müssen wir manchmal - trotz aller Bemühungen - leben. Dies ist im Bereich Lesen, Rechtschreibung und Rechnen nicht notwendig, wie viele Berichte von Eltern und SchülerInnen aus unserem Erfolgsbuch zeigen, das in der Praxis ausliegt (einige Auszüge sind unter dem Link: 'Erfolgsberichte' einsehbar).

Beispiel: Diagnose AD(H)S

Viele Kinder und Jugendliche, die zu uns kommen, wurden mit AD(H)S diagnostiziert. Wenn Eltern den Test zu Lern- und Arbeitsverhalten, Sensibiliät und Intelligenz (siehe Internetseite, Link 'Erstgespräch') machen, stellen sie fest, dass die meisten Punkte bei ihren Kindern zutreffen.

Auch bei vielen Forscherinnen besteht die Vermutung, dass der medizinischen Diagnose AD(H)S eine nicht erkannte Hochsensibilität zu Grunde liegt.

Das würde heißen, dass eine völlig normale, natürliche Eigenschaft, von 15-20 Prozent aller Menschen zu einer psychischen Erkrankung (nach dem Diagnoseschlüssel ICD 10) umdefiniert wird.

Es ist richtig, dass Hochsensible mit Überreizung (z.B. durch Lärm, große Gruppen,...) schwer zurecht kommen und davon unruhig werden. Folglich nimmt die Aufmerksamkeit ab. Deswegen sind diese Menschen aber nicht krank. Durch einen systematischen Konzentrationsaufbau, ausreichend Bewegung und die Anwendung von Entspannungstechniken können sie ein 'normales' Leben führen und die angenehmen Seiten ihrer Sensibilität, z.B. mittels künstlerischer Aktivitäten, Schreiben, Malerei, Tanz, Musik... genießen.

Stattdessen werden 'Medikamente' verordnet (Ritalin ist die Droge 'Speed'), die dazu beitragen sollen, dass die Probleme sich lösen. Sie stellen sich - ohne begleitende Therapie - aber schnell wieder ein, wenn das 'Medikament' abgesetzt wird. Darüber hinaus zeigen sich oft massive Nebenwirkungen bis hin zu einer starken Veränderung der Persönlichkeit.

In unserer dreizehnjährigen Praxis gab es - außer bei vorzeitigem Therapieabbruch – niemanden, der oder die es nicht geschafft hätte, AD(H)S bzw. Hochsensibilität ohne Medikamente zu 'bewältigen'- oder diese (falls sie bereits eingenommen wurden) – in Absprache mit dem Arzt – nach einer gewissen Zeit abzusetzen.

Manche Kinder und Jugendlichen nehmen Medikamente auch von sich aus nicht mehr – z.B. wegen Einschlafproblemen.

Alle Beteiligten (Eltern, Kinder, Jugendliche, Therapeutin, LehrerInnen) benötigen eine gute Zusammenarbeit und Vernetzung, Geduld, Verständnis, Bemühen, Mut zur eigenen Überzeugung zu stehen und die Suche nach Alternativen (neben oben genannten Maßnahmen u.a. Ernährungsumstellung, natürliche Vitalstoffe, Naturheilmittel) an Stelle eines Rückgriffes auf (vor)schnelle Lösungen der Pharmaindustrie.

Zusammenfassend lässt sich sagen:

Anything seems possible, anything goes... und manches ist offensichtlich nicht so, wie es zu sein scheint...

Empfehlungen, Tests und Diagnosen können Anhaltspunkte geben, sie stellen jedoch keine 'absolute Wahrheit' dar.

Jeder Betrachter und jede Betrachterin hat ihren eigenen (persönlichen und beruflichen) Hintergrund, ist eher pessimistisch oder optimistisch, defizit- oder ressourcenorientiert, denkt ganzheitlich oder linear, betrachtet ein und das selbe Glas Wasser entweder als halb voll oder als halb leer. Je nachdem werden ExpertInnen bei ein und demselben Phänomen zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen, Ergebnissen und Schlussfolgerungen kommen.

Verlassen Sie sich - neben ExpertInnenmeinungen und -aussagen - daher bitte auf Ihre eigene Wahrnehmung, Ihren gesunden Menschenverstand und Ihre Intuition. Seien Sie selbstbewusst und handeln Sie dementsprechend - Sie kennen sich und/oder Ihr Kind am Besten.

Achten Sie darauf, ob Sie Vorschläge anderer als hilfreich, unterstützend oder belastend empfinden, ob Sie den Eindruck haben, dass diese Menschen - neben dem professionellen auch ein persönliches - Interesse an Ihnen haben, ob sie mehr wissen wollen, sich um Sie und Ihre Themen bemühen, Ihnen weiter helfen oder Sie schnell in Schubladen stecken, beurteilen und abwimmeln.

Dann werden Sie - im Dschungel der Empfehlungen, Tests und Diagnosen - einen guten, für Sie (und Ihr Kind) stimmigen Weg und die passenden Unterstützungsformen und BegleiterInnen finden...

Wir wünschen es Ihnen von ganzem Herzen!